Guadix - Leben in der Erde

⓿❾❹ Guadix liegt am nördlichen Fuss der Sierra Nevada, 60 Kilometer östlich von Granada auf 964 Meter über Meer, umgeben von grossflächigen, fruchtbaren Ackerflächen. Bereits auf der Autobahn A92, die nahe der Stadt vorbeiführt, sind die weiss getünchten Kamine mit ihren abgerundeten Dächern sichtbar. In Gedanken an die Alhambra fährt man mit einem erstaunten Blick an diesen pilzartigen Kaminen vorüber. Dabei lohnt sich der Halt in Guadix sehr, denn hier befindet sich die grösste Höhlenstadt Europas.

Will ich den Archäologen glauben, ist Guadix eine der ältesten menschlichen Ansiedlungen auf der Iberischen Halbinsel. Dies zeigen verschiedene Funde aus prähistorischer Zeit. Kein Wunder, denn die Voraussetzungen für das Überleben war bestens. In den Wäldern wurde gejagt, und Wasser hatte es mehr als genug. Die früheren Namen der Stadt waren “Acci”, und “Wadi Asch”, das tönt zumindest sehr ähnlich wie das heutige Guadix. Im 3. Jahrhundert, zur Zeit der Römer, war Guadix ein Bischofssitz. Später, während der arabischen Herrschaft, gelangte Guadix zu Reichtum durch seinen Handel, unter anderem mit Seide. Der Alcazar (arabisch Schloss) am Rand der Altstadt zeugt noch von dieser Epoche. 1489 wurde Guadix von den Katholiken zurückerobert. Umgehend zog wieder der Bischof ein. Bald darauf begannen auf dem Fundament der ehemaligen Hauptmoschee die Bauarbeiten für die eindrückliche Kathedrale in den Stilen Gotik, Renaissance und Barock. Sie ist ist prägnant und eines der von weither sichtbaren Wahrzeichen der Stadt.

Nachdem die Katholiken die Region wieder einnahmen, wurden die Andersgläubigen aus der Stadt verdrängt. Diese zogen sich in die angrenzende Umgebung zurück. Sie arbeiteten für die neuen Herren in der Landwirtschaft und bauten sich ihre Behausungen. So entstanden im angrenzenden Barrio de Santiago (Quartier des Santiago) über 2’000 Höhlenwohnungen für rund 10’000 Personen. Hier lebten diese Menschen, eng zusammengepfercht, mit ihren Familien. Zwischen den Hügeleinschnitten fanden auch zwei Wallfahrtskirchen ihren Platz. Da zu jener Zeit die Kenntnisse über die Statik nicht entwickelt waren, fiel mit der Zeit die eine oder andere Höhle in sich zusammen und begrub seine Bewohner unter sich. Trotzdem sind die Menschen in Guadix noch Heute stolz auf ihre Höhlenbauer, die “Picadores”.

Ein Casa de Cueva (Höhlenhaus) besteht in der Regel aus einem Vorplatz und dem Haupteingang, genannt Portal, das ins Innere führt. Daneben ist ein Küchenfenster eingesetzt, von dem Eingang und Vorplatz überblickbar sind. Über dem Kochherd beginnt das senkrechte Loch bis an die Erdoberfläche hinauf und endet mit dem Kamin. Die weiteren Räume im Innern der Höhle sind fensterlos. Anstelle von Türen sind Vorhänge angebracht. So entsteht zwischen Eingang, Fenster und Kamin ein ständiger Luftzug, und das Innere der Höhle bleibt nicht nur trocken, sondern im Sommer herrlich kühl und im Winter angenehm warm. Eigentlich ist es eine sehr moderne Anlage mit gesundem Wohnklima, die den heutigen Herausforderungen der heissen Sommer und der teuren Energie erfolgreich trotzt. Dies passt den Menschen und den gehaltenen Haustieren. Bis in die 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden in den Cuevas Schweine, Hühner, Esel und Ziegen gehalten, die einen Teil der täglichen Nahrung seiner Bewohner beisteuerten und die Küchenabfälle auf natürliche Weise rezyklierten.

Mit der Zeit wandelte sich die Bevölkerung der Höhlenwohnungen. Bald gesellten sich die Gitanos (Romas) und weitere Kulturen dazu. Heute ist diese Gemeinschaft sehr durchmischt. Sie zählt aktuell noch etwa 2’600 Personen, denn auch hier sind die Familien kleiner geworden. Neuerdings sind es oft Aussteiger und Individualisten, die eine freie Höhlenwohnung erwerben und diese teilweise für Kleingewerbe nutzen. Es hat Keltereien, Weinkeller, Bäckereien und Töpfereien in den Häusern. Hier entsteht der berühmte, reich verzierte Tonkrug von Guadix. Bei unserem Spaziergang durch den Barrio wurden wir spontan zur Höhlenbesichtigung eingeladen. Das Motto der Einheimischen: “Donde la Tierra te abraza” (wo die Erde dich umarmt), ist deshalb doch sehr zutreffend.