❶❾❹ “Hier ist ein Land voller Kontraste, in dem alle Arten von Landschaften und Farben auf kleinem Raum konzentriert sind, was es für jeden Künstler zu einem wahren Vergnügen macht, es zu entdecken.” Das sind die Worte des Malers Rubén de Luis (1974). In dieser Landschaft liegt San Vicente de la Sonsierra, das anmutige Dorf im Norden der Comunidad La Rioja. Von weitem schon ist der Hügel sichtbar mit den präzis platzierten Häusern und der Burg oben auf der Spitze. Zum Verlieben schön.
San Vicente de la Sonsierra liegt in der Abgeschiedenheit des Rioja, dort, wo sich Füchse und Hasen Gute Nacht sagen. Im historischen Dorfkern führt ein ausgezeichnet kommentierter Rundweg durch die gepflegten schmalen Gassen bis hinauf zum Burghügel. Hier ist die Sicht frei auf die römische Brücke und den Fluss Ebro, der sich dem Dorf entlang schlängelt. Im Hintergrund sind die Umrisse der Stadt Haro sichtbar. Die Burg wurde bereits im 9. Jahrhundert als Verteidigungswall gebaut, das Dorfleben zu ihren Füssen begann 200 Jahre später. Am Rand der Burg steht der Uhrturm. Hier wurde im Mittelalter eine Glocke installiert. Diese war bis in den hintersten Winkel hörbar und regelte das tägliche Leben, also die Stunden der Arbeit, des Kirchgangs und des Feierabends.
Es sei das Dorf der widerspenstigen Menschen, erklärte mir die Mitarbeiterin im Touristenbüro. Entgegen des strikten Verbots der Landeskirche und der Zentralregierung finden in der Karwoche die “Picaos” statt. In diesem ur alten Ritus werden den Männern in einer besonderen Prozession die Sünden ausgepeitscht, orchestriert von der Bruderschaft Veracruz (wahres Kreuz) und autorisiert durch den Dorfpfarrer. Dieser entscheidet, wer den christlichen Glauben genügend praktiziert, sprich, regelmässig zum Gottesdienst erscheint, um am Bussgang teilzunehmen und sich vom Zuchtmeister auf den Rücken schlagen zu lassen. Seit 1998 dürfen auch Frauen teilnehmen. Die Prozession endet mit einer Opfergabe in der Kirche und einem fröhlichen Fest. Ich denke, San Vicente de la Sonsierra ist das einzige spanische Dorf, das den Brauch noch pflegt. So fordern die Dorfbewohner explizit Respekt gegenüber der Tradition und das Recht, dieses Erbe ihrer Vorfahren fort zu führen.
📜 Auch für seine ältere Generation ist San Vicente de la Sonsierra gut unterwegs. In den Talleres para Mayores (Werkstätte für Ältere) werden während des Winters gemeinsames Kochen, Turnen, kulturelle Ausflüge und einiges mehr angeboten. Das gibt einen Unterbruch in den oft einsamen Alltag, die sozialen Kontakte werden unterstützt. Wie in Spanien üblich, kommt das Geld für dieses doch eher kleine Projekt aus mehreren Töpfen. Neben der Gemeinde finanzieren die Provinz, das nationale Kulturministerium und die Europäische Union, ohne sie in diesem Land so ziemlich gar nichts geht.