❶❹⓿ Eigentlich ist Reus eine unspektakuläre spanische Stadt. Sie hat 100’000 Einwohner und liegt ein paar Kilometer hinter dem bekannten Küstenort Tarragona an der Ostküste. Sie verfügt über einen kleinen Flughafen, welcher vorwiegend von Ferien-Airlines und innerspanischen Flugzeugen frequentiert wird. Das erscheint auf den ersten Blick langweilig. Auf den zweiten Blick siehst du, die Stadt war dereinst der weltgrösste Umschlagplatz für Weinbeeren, und auf zwei ihrer Kinder ist die Stadt sehr stolz.
Am 25. Juni 1852 kam im Carrer de Sant Vicenç der berühmte Naturmensch und Architekt Antoni Gaudí zur Welt. Sein Vater war Kupferschmied und Antoní das jüngste von fünf Kindern. Die höhere Schulbildung und das Studium absolvierte er in Barcelona. Er war unangepasst, eigensinnig und höchst kreativ. Beim Abschluss an der Universität entliess ihn der Direktor mit folgenden Worten: “Wir wissen nicht, ob wir das Diplom einem Verrückten oder einem Genie gegeben haben - nur die Zeit wird es uns zeigen.” Gaudí arbeitete wie besessen, wandelte sich persönlich von einem Lebemann zum Asketen und schuf einmalige Bauwerke im katalanischen Jugendstil, unter anderen das Casa de Botines in León. 1885, mit 31 Jahren erhielt er den Auftrag für sein Vermächtnis, die Sagrada Familia in Barcelona, deren Gestaltung er 42 Jahre widmete, davon 12 Jahre lang ohne die Skizze eines anderen Bauwerks auf dem Tisch. Am 7. Juni 1926 wurde er bei Nacht von einer Strassenbahn angefahren und liegen gelassen. Drei Tage später starb er und wurde in der Krypta der Sagrada Familia beigesetzt. Seine Geburtsstadt Reus ernannte ihn zum Ehrenbürger und schuf einen Platz mit einer Skulptur, die ihn als Jugendlichen zeigt und das moderne Gaudí-Center an der Plaça Mercadal (Marktplatz).
Während Jahrhunderten war Reus das weltgrösste Handelszentrum für Weinbeeren. Im ausgehenden 19. Jahrhundert verarbeiteten sie die ersten Trauben zum Vermut de Reus (Vermouth von Reus). Die Herstellung des eher süssen alkoholischen Getränks nahm ihren Siegeszug auf. Bald zählte man in Reus bis zu 50 Vermutfabriken, und ihr Getränk fand leichten Absatz. Zeugen vom Reichtum mit Trockenfrüchten und Vermut sind die zahlreichen Patrizierhäuser in der Altstadt aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts.In den 70-er Jahren war Wermut nicht mehr beliebt, man trank eher Wein und Bier. 1982 erhielt Joan Tàpias von seinem Vater eine Flasche Vermut zum Geburtstag. Er begann, alles rund um den Vermut zu sammeln. 2014 zählte sein Bestand 5’000 Objekte, darunter Flaschen in allen Grössen aus der ganzen Welt, Aschenbecher, Plakate, Instrumente zur Herstellung und vieles mehr. Zusammen mit der Stadt und Investoren gestaltete und eröffnete er in einem der Patrizierhäuser das erste Museum, das dem Wermut gewidmet ist. Die Stadt verdankt ihm viel, er hat nahezu vergessene Kultur wieder zum Leben erwacht. Er weiss, dass man mit einem Museum allein kaum Rendite erzielt. Ein Restaurant und eine Vermutbar sind dem Museum angegliedert. Der Besuch lohnt sich also mehrfach.
📜 Ob es Gespür war oder ob Joan Tàpias der Zufall zu Hilfe eilte, weiss ich nicht. Auf jeden Fall geniesst der Vermut seit einigen Jahren eine Renaissance. Wenn du in Reus weilst und Lust auf einen Apéro hast, dann gehst du “auf einen Vermut”, auch mit einer Stange Bier oder einem Glas Wein. Übrigens trinken die Einheimischen den Vermut am liebsten mit Oliven. Versuche es, und du siehst, es schmeckt vorzüglich.